Riace – das Willkommensdorf in Süditalien

Das Bergdorf Riace im süditalienischen Kalabrien hat seit Ende der 1990er Jahre Geflüchtete aufgenommen. Als Ort des Willkommens und Gegenmodell zur Abschottungspolitik der EU fanden Riace und sein früherer Bürgermeistert Domenico (Mimmo) Lucano weltweit Anerkennung.

Ein Oldenburger hat sich selbst ein Bild in und von Riace und den dort lebenden Menschen gemacht und wird davon berichten. Angesichts aktueller Zwei-Klassen-Willkommenskulturen für Geflüchtete ein wichtiger Beitrag.

Mittwoch, 23. März 2022, 19:00 Uhr

Städtisches Kulturezentrum PFL, Seminarraum 2, Peterstraße, Oldenburg i. O.

Eintritt frei, Spenden willkommen, Anmeldung erwünscht unter Mobil: 0157-74 50 33 27 oder Email: info@fluchtmuseum


Elisabeth Voß, Februar 2022

Juristische Angriffe gegen ein Willkommensdor

Im Unterschied zu profitablen Flüchtlingslagern, in denen die Schutzsuchenden unter oft menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht wurden, fanden sie in Riace freundliche Aufnahme. Das Dorf litt schon lange unter der Abwanderung Einheimischer, die auf der Suche nach bezahlter Arbeit in den Norden oder nach Übersee gingen. Zurück blieben vor allem die Älteren, viele Häuser standen leer. Mit dem Zuzug von überwiegend jüngeren Geflüchteten kam wieder Leben nach Riace. Dank der zugezogenen Kinder konnten Kindertagesstätte und Schule wieder öffnen. Die mit staatlichen Mitteln geförderte Unterbringung und Betreuung Geflüchteter brachte Arbeit und Einkommen, ebenso wie die Werkstätten, in denen alte Handwerkskünste wiederbelebt wurden und Einheimische und Zugereiste zusammenarbeiteten.
Im öffentlichen Raum war die Aufnahmebereitschaft durch Schilder, Wandbilder und künstlerische Objekte sichtbar, die Solidarität bekundeten, ebenso wie die Ablehnung der Mafia, zum Beispiel mit dem
Antimafiasymbol der offenen Hand. Die Willkommensprojekte zahlten keine Schutzgelder an die ’Ndrangheta, die als eine der mächtigsten Mafia-Organisationen der Welt gilt.


Freundliche Aufnahme und internationale Anerkennung
Domenico Lucano lehnte nie ab, weitere Geflüchtete aufzunehmen, was die Behörden zu schätzen wuss-ten. Mitunter lebten viele Hundert Schutzsuchende gleichzeitig in Riace. Die meisten bleiben jedoch nur für kurze Zeit, denn die Fördergelder wurden nur für die Dauer des Asylverfahrens – in der Regel sechs Monate – gezahlt. Diese Zeit ließ sich manchmal strecken, und es gelang Lucano, mit dem Geld mehr Menschen zu versorgen als vorgesehen. Für ihn stand die Menschlichkeit im Vordergrund, sie war ihm
wichtiger als die Bürokratie, und er ging kreativ und im Sinne der Betroffenen mit den Fördergeldern
um. Nach dem Ende ihres Asylverfahrens verließen viele Geflüchtete das Dorf, denn sie fanden dort keine berufliche Perspektive, ebenso wie die ausgewanderten Einheimischen.Jedoch konnten unzählige Schutzsuchende in Riace ankommen und sich dort, in einer freundlichen Umgebung, von den Strapazen der Flucht erholen.

2010 drehte Wim Wenders den Film „Il Volo“ (Der Flug) über Riace und erklärte zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, nicht dieser, sondern was in Riace geschehe, sei die „wahre Utopie“. Ebenfalls 2010 wurde Lucano mit dem dritten Platz des World-Mayor- Awards als einer der besten Bürgermeister weltweit geehrt. Das US-amerikanische Magazin Fortune nahm ihn 2016 in die Liste der „World’s 50 Greatest Leaders“ auf – zusammen mit Angela Merkel und Papst Franziskus. 2017 bekam er den Dresdner Friedenspreis.


Beginn der Repression

Dann änderten sich die politischen Kräfteverhältnisse in Italien. 2016 gab es einen Wechsel in der Regio- nalregierung von Reggio Calabria. Riace wurde mit Inspektionen drangsaliert, der Bürgermeister wurde überwacht und 2017 – zusammen mit 26 weiteren Riacesi – der Beihilfe zur illegalen Einreise und Unter- schlagung von Fördergeldern angeklagt. Mit dem Wahlsieg der reaktionären, nationalistischen Partei Lega im Juni 2018 wurde deren Vorsitzender Matteo Salvini Innenminister des Landes. Am 2. Oktober 2018 wurde Domenico Lucano seines Amtes enthoben, zunächst unter Hausarrest gestellt und dann aus Riace verbannt. Die meisten Geflüchteten mussten Riace verlassen. Obwohl alle Vorwürfe, außer dem der Förderung von Scheinehen, im Frühjahr 2019 in einem Vorverfahren vom Kassationsgericht zurückgewiesen wurden, fand das Gerichtsverfahren vor dem kalabrischen Regionalgericht in Locri im Juni 2019 unter Hochsicherheitsbedingungen statt, als wäre es ein Mafia-Prozess. Lucano bekannte sich dazu, eine nigerianische Zwangsprostituierte bei der Eheschließung unterstützt zu haben und erklärte, dies sei seine Konsequenz aus dem Tod der 26-jährigen Nigerianerin Becky Moses. Sie hatte in Riace gelebt, das sie nach der Ablehnung ihres Asylantrags verlassen hatte. In der Nacht des 26. Januar 2018 starb sie bei einem Feuer in einem Zelt im berüchtigten Lager San Ferdinando. So etwas wolle er nie wieder erleben, sagte Lucano vor Gericht.


Hoffnung auf das Berufungsverfahren
Als er nach elf Monaten zurückkehren durfte, baute der ehemalige Bürgermeister die Willkommens- projekte wieder auf. Im Herbst 2019 wurde nach Jahren erstmals wieder Olivenöl in Riaces eigener Ölmühle hergestellt – ein wichtiger Schritt zum Aufbau einer von Fördermitteln unabhängigen lokalen
Ökonomie. In einem Interview sprach Mimmo Lucano 2019 über seine Hoffnung auf einen solidarischen Tourismus: „Denn wir haben hier ein günstiges Klima, das von April bis November anhält. Wir haben bereits Ende Oktober, und die Leute gehen an den Strand. Dann ist dieser Landstrich hier schön, sogar die Landschaft des Dorfes, auch mit gesunder Luft, und auch das Essen ist naturbelassen.“
Doch die Gerichtsprozesse gingen weiter, und am 30. September 2021 wurde Lucano zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. In dem ersichtlich politisch motivierten Urteil wurde das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß nahezu verdoppelt. Die Solidarität mit Geflüchteten wurde öffentlichkeitswirksam kriminalisiert. Weit über Italien hinaus sorgt das Urteil für Entsetzen. Domenico Lucano ist auf freiem Fuß. Er habe keine Angst, sagte er in einer Pressekonferenz am 18. Februar 2022 – und drückte seine Hoffnung aus, dass die falschen Behauptungen, die im Gerichtsverfahren aufgestellt wurden und aufgrund derer er verurteilt wurde, im Berufungsverfahren zurückgenommen werden.


»Durch ein absurdes Zusammentreffen, durch eine Laune des Windes, ist die Geschichte auf ein Dorf gestoßen, das mit dem ›Virus der Menschlichkeit‹ infiziert war, einen Ort, an dem es möglich war, sich
vorzustellen, dass wir alle Menschen sind. Das hat eine tiefe Spur hinterlassen, das ist das Erbe, das wir weitergeben, der Traum, dessen Verwirklichung noch aussteht.« (Mimmo Lucano)


Mimmo Lucano: Das Dorf des Willkommens
Aus dem Italienischen von Elvira Bittner, 288 Seiten, 28,50 €
Verlag rüffer & rub, 2021
Mehr Informationen über Riace: www.riace.solioeko.de

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